Offener Brief I

Sehr geehrte Familie Meyer,

die Lage ist kritisch, es wird ernst. Die Medien schüren Panik, da kann man schonmal durcheinander kommen und den Überblick verlieren. Deshalb komme ich an dieser Stelle meinem Bildungsauftrag nach und kläre Sie auf.
Wohnraum im Szenebezirk ist begehrt, das wissen Sie, das weiß ich. Folgerichtig sind die Preise hoch und wer in einer bezahlbaren Wohnung sitzt, bleibt da auch. Als ich hier vor viereinhalb Jahren einzog, war die Miete vergleichsweise hoch, inzwischen krieg ich nichts vergleichbares mehr zu diesem Preis. So lange ich noch an diese Stadt gebunden bin, wär es also schön blöd von mir, umzuziehen.
Wie Sie sehr richtig bemerkten, will die XYZ, auch bekannt als die Firma, die mir meine Wohnung vermietet, selbige verkaufen. Was Sie offenbar übersehen, ist die Tatsache, daß mir ein Vorzugskaufrecht zusteht. Daß ich dies nicht wahrnehmen möchte, auch dann nicht, wenn ich es mir leisten könnte, spielt hier keine Rolle. Sie wissen nicht, was ich will, wir sind uns schließlich nie begegnet und haben noch nie miteinander gesprochen. Auch meine Wohnung haben Sie noch nie von innen gesehen. Dennoch sind Sie daran interessiert, sie zu kaufen. So sehr, daß Sie mir einen Brief schreiben und mich bitten auszuziehen. Nun ja, Sie können kaufen, was Sie wollen und Sie können schreiben, wem Sie wollen, aber einige Dinge möchte ich doch noch klarstellen. Bislang sind Sie nur Kaufinteressenten. Zum Auszug zwingen kann mich nur die XYZ und nur mit einer Frist von drei Monaten.
Es ist schön, daß Sie sich „vorstellen könnten“, mich für meine „möglichen Aufwendungen und Strapazen zu entschädigen“. Kaufen Sie die Wohnung, kündigen Sie mir den Mietvertrag, dann komme ich darauf zurück.
Sie haben sich sicher viel Mühe mit Ihrem Brief gegeben, alles handschriftlich und sogar selbst eingeworfen. Da wirkt die Formulierung „wir wollen werden Sie weder rausekeln noch Ihnen drohen“ so schön zufällig und unschuldig. Das „aber“ einige Sätze später macht Ihre Beteuerungen jedoch ein klein wenig unglaubwürdig.
Halten wir also fest: Sie möchten die Wohnung, die ich gemietet habe, unbesehen kaufen und selbst dort einziehen. Auf eine Kündigungsklage möchten Sie aber verzichten, obwohl Sie gute Chancen hätten, schließlich haben Sie Nachwuchs. Stattdessen setzen Sie auf mein Mitleid („auch uns fehlen Alternativen für eine neue Bleibe in Schul- und Kita-Nähe“). Ganz sicher, ständig werden hier neue Häuser gebaut und alte saniert und der Bezirk ist voll von Schulen und Kitas; Sie wohnen um die Ecke, Sie wissen das.
Da das vielleicht nicht zieht, versuchen Sie zusätzlich noch mich einzuschüchtern. Mal ehrlich, ist Ihre Trickkiste so leer, daß Ihnen im Falle meiner Weigerung mit Ihnen persönlich zu reden nichts weiter einfällt als „der nächstbeste Immobilienhai“, der meine Wohnung kaufen und mich „dann wohl vor vollendete Tatsachen setzen wird“?
Welches Interesse könnte ein Immobilien“hai“ denn daran haben, eine einzelne sanierte und vermietete Wohnung zu kaufen? Und vor welche Tatsachen sollte er mich stellen?
Ich empfinde hier also weder Mitleid noch Angst. Das ist aber nicht so schlimm, Sie gehen auf Nummer sicher und halten das Schreiben plump-vertraulich, beginnen mit „Liebe Frau L.“ und schließen mit herzlichen Grüßen, teilen mir nicht nur Ihre Adresse, sondern auch eine Handynummer und eine E-Mailadresse mit, um mir total doll subtil klarzumachen, daß Sie doch eigentlich ganz nett und vertrauenswürdig sind und ich Ihnen ruhig den Gefallen tun und mich mal melden kann.
Und dann? Suchen Sie mir eine neue Wohnung, im selben Bezirk, in einer ruhigen Gegend, mit großem Balkon, bezahlen mir den Umzug und die Differenz zur jetzigen Miete? Oder warten Sie bis zum nächsten Frühjahr und finanzieren mir meine geplante Übersiedlung in die USA inkl. den Kosten fürs Visum? Dann können wir uns gerne zusammensetzen und darauf anstoßen, daß wir eine Lösung gefunden haben „von der alle profitieren“ und „mit der alle glücklich werden“.
Wenn Sie sich aber weder einen Anwalt noch eine Briefmarke leisten können, wie wollen Sie mich dann entschädigen und wovon wollen Sie die Wohnung bezahlen?

Sollten Sie mich dennoch sprechen wollen, finden Sie mich unter meinem Sofa, wo ich vor dem nächstbesten Immobilienhai zittere.

Mit freundlichem Grunzen
Frau L.
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